Als wir am Morgen um sieben Uhr aufstehen, wird sogleich ein bewaffneter Soldat in sein Wachhäuschen geschickt um uns im Auge zu behalten. Bei diesen Radfahrern weiß man ja nie...
Eine Stunde passiert dann gar nichts und wir essen unser restliches Müsli, bis um acht Uhr ein wichtig aussehender Soldat mit moderner Sonnenbrille und unseren Pässen ankommt und irgendetwas in ein Buch einträgt. Jetzt heißt es Daumen drücken. Entweder er drückt sie uns gleich in die Hand mit der Aufforderung umkehren zu müssen, oder wir werden durchgelassen. Nachdem er uns die Pässe in die Hand gedrückt hat, öffnet er tatsächlich die Schranke. Wow! Uns fällt ein Stein vom Herzen. Wie lange haben wir auf diesen Moment warten müssen. Noch unterdrücken wir jedoch die Freude. Gestern hatten wir auch zu früh geglaubt es geschafft zu haben.
Dann passiert eine weitere halbe Stunde nichts, bevor der nette Kommandant von gestern mit einem weißen Papier ankommt, unserem Permit. Wir dürfen tatsächlich durch. Am liebsten würde ich ihm jetzt um den Hals fallen, allerdings drücke ich meine Dankbarkeit dann doch lieber verbal aus.
Wir passieren den Checkpoint, lassen den Wachturm hinter uns und rollen durch die Landschaft, die hier durch und durch aus Ödland besteht. Einige Meter neben der Piste ist mal wieder eine verlassene und verfallene Ortschaft in der ein paar Hunde bellen. Anscheinend leben mal wieder Menschen an einem Ort, wo wir es für unmöglich halten zu existieren.
Nachdem wir einen bestialisch stinkenden Fluss glücklicherweise so überquert haben, dass unsere Schuhe nicht mit dem Wasser in Berührung kamen, knickt die Straße in Richtung Westen ab. Neben der Straße sind wie immer zahlreiche Schützengräben und Bunkeranlagen. Wir lassen es uns nicht nehmen einen der alten Bunker zu besichtigen und ein paar Fotos zu machen. Bleibt nur zu hoffen, dass nicht mal jemand auf die Idee gekommen ist hier auch noch Minen zu legen...
Voller Ungeduld schwingen wir uns wieder auf das Rad, um die Landschaft zu erkunden, wie sie wohl nach der nächsten Kurve aussehen mag. Interessanterweise hat sich die Landschaft auf den letzten achtzig Kilometern von Ak-Mus bedeutend geändert. Der Boden ist viel trockener geworden, an einigen Stellen ist er vor Trockenheit richtig aufgerissen. Es dominieren vor allem die Farben braun und grau. Wir haben fast das Gefühl durch eine Wüste zu fahren. Und in gewisser Weise fahren wir auch durch eine. Im Winter ist es hier zu kalt, um irgendwelcher Vegetation ein Überleben zu ermöglichen, im Sommer zu trocken. Nur 150 mm Niederschlag fallen hier im Jahr. In Hamburg sind es immerhin über siebenhundert. Demzufolge gibt es nur ein paar wenige, verbrannte Grasbüschel am Straßenrand zu sehen. Die Trockenheit bringt natürlich auch ein weiteres Problem mit sich. Die Wasserbeschaffung. Die meisten Flüsse in dieser Gegend sind eingetrocknet. Nur die wirklich großen führen tatsächlich Wasser, sodass man etwas großzügiger planen sollte.
Als wir dann um die nächste Kurve kommen, liegt vor uns eine kilometerlange Ebene, die leicht abfällt. Am Ende erhebt sich majestätisch der Gebirgszug, hinter dem China beginnt. Ganz anders, als alle anderen Gebirge, die wir bis jetzt in Kirgistan gesehen haben, wechseln sich steile Bergkuppen mit flachen, runden, fast schon plump wirkenden Kuppen ab. Die Weite der Landschaft ist richtig erdrückend und ich habe tatsächlich das erste Mal eine Ahnung, wie es wohl in Tibet aussehen könnte. Bis jetzt lösten immer schon kleine Hochebenen bei mir das Gefühl aus, sich vorstellen zu können, wie es dort aussieht. Aber jetzt bekommt das Wort Weite eine ganz neue Dimension. Wir bahnen uns den Weg entlang zahlreicher Viehherden, die niemandem zu gehören scheinen, werden begleitet von den Rufen verängstigter Murmeltiere und sehen nur ganz vereinzelt in weiter Ferne mal eine Jurte.
Nach einigen Kilometern wird das Tal noch breiter als zuvor und verwandelt sich in eine ausgedehnte Ebene, auf der zahlreiche Jurten mit ihren qualmenden Schornsteinen stehen. Dahinter erhebt sich fast senkrecht der Gebirgszug in die Höhe.
Als wir aus dem Tal abbiegen, sehen wir dann was vor uns liegt: Nichts.
Eine schier endlose Ebene erstreckt sich bis zum Horizont und nur ein paar Yaks stehen auf der Straße im Weg. Früher waren Yaks für uns immer etwas ganz besonderes. Tiere, die man mit Nepal und Tibet, mit riesigen Höhen und Fremde assoziierte. Yaks waren immer der Inbegriff der wirklich fernen Länder. Und nun stehen wir ihnen Auge in Auge gegenüber, bestaunen die langen Hörner und das lange Fell. Seit gestern wissen wir sogar wie die Tiere schmecken. Irgendwie verlässt einen in einer solchen Situation ein bisschen die Mystik und die Illusion, die man jahrelang um so einen Gegenstand seiner Fantasie hegte. Denn die vorgestellte Befremdlichkeit ist doch gar nicht mehr so groß wie immer erwartet...
Wir queren den Fluss Ak-Sai und es offenbaren sich nun die ersten Berge, die nur sehr flach, dafür aber mit Schnee bedeckt die Ebene begrenzen. Nur einige wenige Wölkchen hängen über den Bergkuppen. Ansonsten ist der asiatische Himmel tief dunkelblau. Eigentlich ist es kaum zu glauben, dass die höchsten Berge hier über 4000 Meter hoch sein sollen. Dabei sehen sie doch durch unsere eigene große Höhe so niedrig aus. Es ist sowieso verwunderlich, dass wir auf über dreitausend Metern fahren und um uns herum alles flach ist.
Am anderen Ende der Brücke sehen wir schon den nächsten Checkpoint. Jetzt schnell die Kamera weg. Schließlich befinden wir uns in einem militärischen Sperrgebiet und da ist fotografieren natürlich strengstens untersagt. Nicht umsonst hatten wir schon am ersten Checkpoint das Vorhandensein jeglicher Fotoapparate leugnen müssen. An dieser Kontrolle werden wir von einem Soldaten an der Straße abgefangen und zum Stützpunkt geleitet, wo ein ranghöherer Offizier mit kahlgeschorenem Kopf auf uns wartet. Minutiös studiert er JEDES Detail der Pässe und Visa. Selbst das Ausstellungsdatum und die Worte „der Bürgermeister“ findet er noch interessant. Oh Gott! Wir wollen doch heute auch noch mal hier weg kommen. Jetzt heißt es Nerven bewahren und den Soldaten bloß keine Gereiztheit zeigen. Dann vergräbt er sich auch noch in unserem Deutsch-Russisch-Lexikon. Er fragt uns nach dem Vorhandensein von Waffen und Betäubungsmitteln. Wir verneinen. Als wir alle gerade so gemütlich zusammensitzen, fragt er so ganz nebenbei, ob wir nicht ein Foto von uns allen machen wollen. Das Schwein! So etwas Hinterlistiges. Keine fünf Meter weiter liegen ein paar lose, aus der Kamera herausgezogene und inzwischen von der Sonne verblichene Filme, die mir schon beim Reinspazieren aufgefallen waren. Wir fallen auf die Masche natürlich nicht herein. Nein, einen Fotoapparat haben wir nicht. „Auch nicht am Rad?“ „Nein...“
Dann drückt er uns endlich die Pässe in die Hand. Jetzt aber nichts wie weg hier! Ich reiche ihm die Hand zur Verabschiedung. Aber nix da! Er lässt uns noch nicht gehen, faselt irgendetwas von Gastfreundschaft und weist seine Frau im schärfsten Kasernenton an gefälligst Essen zu bringen. Na gut, außerdem hat er immer noch mein Wörterbuch in der Hand und redet weiter auf uns ein. Irgendwann zeigt er dann den Mittelfinger. Wir verstehen gar nichts mehr. Dann bringt seine Frau Brot, Butter und Kumys. Oh weh... Kumys will ich nach den gestrigen Erlebnissen nicht noch einmal trinken. Mit einer eindeutigen Geste mache ich vor was nach dem letzten mal passiert ist, als ich das Zeug getrunken habe. Die Männer können sich vor Lachen kaum halten. Schließlich ist Kumys hier das Nationalgetränk schlechthin und jeder vom Baby bis zum Greis trinkt die vergorene Milch.
Glücklicherweise stößt mein empfindlicher Magen auf Verständnis und wir kommen nach dem Verzehr von etwas Brot endlich weiter.
Allerdings sitzen wir keine fünf Minuten im Sattel, da kommt uns schon ein Reiter in Militärkleidung entgegen. Noch eine Kontrolle? ! Wir halten lieber nicht an und unterhalten uns während der Fahrt mit dem Mann, der nur wissen will, ob wir nicht eine Kamera dabei hätten...
Keine zehn Kilometer weiter kommt dann der dritte Checkpoint, an dem ausnahmsweise mal alles reibungslos und schnell abläuft wenn man einmal davon absieht, dass mir aus Versehen aus dem Geldbeutel ein 200 Som Schein in den Pass rutscht, den ich mit einem verschmitzten Lächeln wieder herausziehen muss...Nach der Kontrolle haben wir dann endlich Ruhe. Die Strommasten verschwinden und die Straße sieht deutlich unbefahrener aus. Endlich sind wir ganz alleine.
Am Abend stellen wir unser Zelt am Straßenrand auf und schreiben in der Sonne Tagebuch. Die Szenerie könnte kaum bezaubernder sein. Es sieht hier fast so aus wie die Landschaft des Altiplano in Südamerika, die man von Bildern her kennt.
Während wir die untergehende Sonne genießen, gehen uns zahlreiche Gedanken durch den Kopf: Wir sind eigentlich ohne gültiges Permit in einem Sperrgebiet unterwegs, fotografieren ohne Gnade und zelten auch noch verbotenerweise. Wir sind doch verrückt!
Dann geht die Sonne unter. Die schroffen Berge am Horizont sind pechschwarz. Dahinter ist gerade die Sonne untergegangen und ihre letzten Strahlen verwandeln den Himmel hinter und über den Bergen in ein Quietschorange, das langsam in die völlige Schwärze der Nacht übergeht. Während auf der einen Seite der riesigen Ebene schon die Sterne zu sehen sind, ist der Himmel auf der anderen Seite immer noch goldgelb. Wir fühlen uns so klein...
Wir bauen das Zelt auf und hoffen, dass die zahlreichen Wölfe, vor denen wir seit Tagen gewarnt wurden, nicht vom Essensgeruch angelockt werden. Nachdem wir uns eingebildet haben einige wolfsähnliche Geräusche gehört zu haben, verziehen wir uns lieber ins Zelt. Wenn das unsere Familien... .