Am nächsten Morgen liegen der See und die Berge teilweise im leichten Nebel und wir müssen an einer Jurte die Schattenseiten des Tourismus entdecken, der hier am Song-Köl mittlerweile relativ stark ausgeprägt ist. Erst werden wir von den Kindern nach Kugelschreibern gefragt, dann um Schokolade und als wir alle diese Bettelversuche abwürgen, kommen sie schließlich direkt zur Sache: „Dollar? Som?“ Wir arrogante Radfahrer aus dem Westen geben ihnen natürlich nichts. Eine doch etwas unangenehme Situation. Und das alles nur weil wir für fünf Minuten hundert Meter neben ihrer Jurte zum Wasserfiltern anhalten.
An dem Fluss nutze ich auch endlich mal wieder die Gelegenheit mich ausgiebigst zu säubern und zu rasieren. Schließlich bin ich in den letzten Tagen kaum noch wiederzuerkennen gewesen. Natürlich ist die Sonne ab just der Sekunde verschwunden, als ich mich komplett nass gemacht habe und es wird empfindlich kühl. Logischerweise lässt sie sich auch erst wieder blicken, als ich fertig bin und schlotternd vor Korbinian stehe. Hmpf!
Über die selbe Straße wie gestern geht es ein paar Kilometer zur Abzweigung zurück, die uns ins 2000 Meter tiefer gelegene Chaek bringen wird. An uns ziehen die vielen Jurten vorbei, die wie Pilze aus dem Boden zu sprießen scheinen und überall steigt noch Rauch aus den kleinen Schornsteinen. Noch einmal fällt ein Blick zurück auf den See, dessen Wasser wie immer spiegelglatt liegt und er schweift weiter über die flache Hochebene, die von den sanften Hügeln eingefasst wird. Plötzlich bleibt er an zwei Tieren hängen, die einige hundert Meter neben der Straße liegen. Wie Kühe sehen sie ja nicht aus. Sollten das etwa Kamele sein? Als wir die Räder am Straßenrand stehen lassen und zu den Tieren gehen, stellen wir fest, dass es tatsächlich welche sind. Bis jetzt habe ich diese majestätischen Tiere immer nur hinter Gittern gesehen und bin erstaunt wie groß und massiv diese Lebewesen doch sind.
„Schau mal Frieda, da sind zwei Kamele!“, tönt es von weit hinter uns. Eine deutsche Touristengruppe hat gerade ihren Transportbus gestoppt und schon stürmen die mit Fotoapparaten behangenen Senioren heraus. Wir radeln zu dem Bus um ein kleines Gespräch mit Landsleuten anzufangen (natürlich auch in der Hoffnung erneut ein Lunchpaket abzugreifen). Nach der obligatorischen Begeisterung über unsere Fahrräder und der Tatsache, dass noch nichts kaputt gegangen ist, erfahren wir von dem erneuten Konflikt zwischen Russland und den Tschetschenen, der auf russischem Boden in Form von Attentaten auf Flugzeuge ausgetragen wurde. Und das, wo wir in einer Woche doch selbst wieder im Flieger sitzen werden.
Nach der Abzweigung folgt die Straße stur dem Wellenprofil der Landschaft. Immer wieder geht es steil bergauf, um anschließend wieder bergab zu gehen. Bei dem Bau der Straße hatte man es sich anscheinend recht einfach gemacht. Glücklicherweise steht an der nächsten Jurte eine Frau in unserem Alter an der Straße und sie bittet uns inständig doch in ihre Jurte zu kommen. Endlich eine Verschnaufpause.
Tatsächlich ist es das erste Mal auf der gesamten Reise, dass wir von einer Frau eingeladen werden. Normalerweise sind die Einladungen reine Männersache. Nach dem Verzehr von Brot und Chay, dürfen wir noch etwas reiten und unsere Gastgeberin muss unbedingt noch ein paar Meter mit mir Fahrrad fahren, indem sie auf dem Oberrohr Platz nimmt. Unglaublich wie man die Frauenwelt hier noch mit einem vollbepackten Fahrrad beeindrucken kann...
Wir folgen der hügeligen Straße und werden nach jeder Kurve erneut enttäuscht. Immer wenn wir den Pass hinter der nächsten Biegung vermuten, folgt erst einmal wieder eine Abfahrt, die uns die mühsam erklommenen Höhenmeter wieder raubt. So werden dreihundert Höhenmeter Differenz zum langwierigen Unterfangen. Im Endeffekt fahren wir durch das ständige Auf und Ab fast das Doppelte. Kurz vor dem Pass holen wir eine Gruppe von sechs Spaniern ein, die während unserer Jurteneinladung vorbeiradelte.
Von unserem vorletzten Pass der Reise geht es dann über die teilweise recht schlechte Straße bergab. Von den zahlreichen Kehren hat man einen wunderbaren Blick auf einen hässlichen Kohletagebau. Die Piste ist teilweise gänzlich schwarz, was auch darauf zurückzuführen ist, dass die Laster ständig ihre Ladung verlieren. An einigen heruntergekommenen Bauwagen, die hier als Wohnungen der Arbeiter dienen, geht es weiter auf der katastrophalen Straße bergab, bis wir die Ebene um Chaek erreichen und von den Spaniern wieder eingeholt werden, die dank ihrer Federgabel die Straße schneller als wir befahren können.
In Chaek finden wir dann endlich ein paar Geschäfte, die um 18 Uhr noch geöffnet haben. Allerdings rennen wir alleine durch sechs Läden um sechs verschiedene Gemüsesorten zu bekommen. Genauso verhält es sich bei den Schokoriegeln. Meist ist nur das vorhanden, was in der Auslage liegt. Und das ist in der Regel nur ein Riegel pro Sorte. Möchte man dann fünf Snickers kaufen, ist der Verkäufer meist überfordert. But that’s part of the adventure...
In einem der Läden wird Korbinian von einem betrunkenen Kirgisien angesprochen, der seinen Wodka bezahlt bekommen möchte, da einer seiner entferntesten Verwandten im Krieg gegen Deutschland erschossen wurde. Nervigerweise verfolgt er uns ständig, während wir von Laden zu Laden rennen. Wir beenden das Trauerspiel einfach indem wir davonfahren, nachdem die Einkäufe beendet sind.
Da sich Chaek und die angrenzenden Ortschaften lückenlos aneinander anschließen und anscheinend alle Welt besoffen ist, ist es uns zu risikoreich hier zu campen. So kommt es im Endeffekt dazu, dass wir von einer Familie für die Nacht eingeladen werden. Und das nur, weil ich vorsichtig frage, ob sie eine Idee hätten, wo man hier sein Zelt aufstellen könnte. Stattdessen werden wir ins Haus geführt und sollen unsere Schlafsäcke in einem der großen Räume ausrollen. Klasse! Sogar ein weiches Sofa und Sessel gibt es hier. Schon wird ein Tisch hereingetragen und wir ahnen bereits was uns bevorsteht: Wir werden hier ein leckeres Abendessen bekommen. Was wir dann tatsächlich aufgetischt bekommen, hätten wir uns in unseren kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Chinesisches Essen, bestehend aus Reis, Fleisch und Gemüse. Dazu ein Salat, Chay Joghurt und Brot mit köstlicher, selbstgemachter Himbeermarmelade. Sogar einen Nachschlag lässt man nicht aus. Nach dem Essen sind wir zum Platzen voll und können nur noch strahlen. Und als draußen gerade das Gewitter einsetzt und wir über unsere ursprünglichen Campingpläne nachdenken, wissen wir ganz genau wie viel ein Dach über dem Kopf und vorzügliches Essen wert sein können...