Gewissheiten der Zivilisation
bei Suusamyr - bei Ak-Suu

Wenn wir eine Auszeichnung für den schlechtesten Zeltplatz der Tour verleihen würden – dieser würde ihn bekommen. Und das nicht nur weil wir wahrscheinlich von zahlreichen Autos gesehen wurden und das niedergedrückte Gras jedem Idioten den Weg zu unserem Zelt zeigen würde. Nein, vielmehr wegen des zerbeulten Bodens, der dazu führte, dass der Zeltboden an den Außenseiten 10 Zentimeter höher als in der Mitte war. Folglich rutschten Korbinian und ich die ganze Nacht ständig aufeinander, was verständlicherweise die Nachtruhe ein kleines bisschen störte...

Endlich wieder Asphalt!

Wieder auf der Straße, geht es durch Suusamyr und wir erwerben in einem der wenigen Läden jeder zwei Teeschüsseln für je 10 Cent. Damit würden wir wenigstens am letzten Abend ein richtiges Gefäß für unseren Kaffee haben. Die Maisdose hat ausgedient. Endlich ein Kaffee ohne Metall- und Maisgeschmack! Zu unserer Verwunderung ist der Ort kleiner als wir gedacht haben. Frisches Gemüse gibt es nirgendwo und auch die restliche Auswahl ist stark eingeschränkt. So fällt der Einkauf für das Abendessen flach und wir halten auf den Pass zu, dessen Kehren wir schon am Berghang vor uns sehen.

Als wir dann den Filter auspacken, um uns das nötige Wasser für die Auffahrt zuzulegen, läuft dieser erstaunlich leichtgängig und die Flasche ist innerhalb einer Minute voll. Sehr seltsam. Und das, wo der Filter doch in der letzten Zeit immer so verstopft war...

Bei genauerem Hinsehen stellen wir dann auch fest, dass das Wasser immer noch genauso dreckig ist wie im Fluss. Na klasse! Auf die Liste der Verschleißteile kann neben einer Tachohalterung, einem Hinterrad, zwei Objektiven und einer Socke jetzt auch noch ein Wasserfilter gesetzt werden. Auf der anderen Seite sind wir natürlich recht glücklich darüber, dass uns das am vorletzten Tag und nicht irgendwo in der Pampa passiert.

Nachdem ich noch einmal ohne Gepäck zurück zum letzten Laden geflitzt bin, um Wasser zu bunkern, kann es endlich weiter gehen. Aber erst nachdem ich festgestellt habe, dass mein Getränkehalter total verbogen ist. Die Liste wird länger.

Nach den letzten Kilometern auf der Holperpiste erreichen wir dann endlich die brandneue Osh-Bishkek Straße, die mit feinstem Asphalt (welch eine Wohltat für den Hintern), durchgängiger Straßenbeschilderung sowie Fahrbahnmarkierung (haben wir noch nie in Kirgistan gesehen) und einer Leitplanke (auch noch nie gesehen) versehen ist. An der Straße sind wieder überall Stände, an denen immer abwechselnd Benzin oder Getränke verkauft werden. Jetzt eine kalte Cola. Das wäre es doch. Aber meine nach dem Zuckerwasser lechzende Kehle wird bitter enttäuscht, da in den Flaschen nur das ekelhafte Kumys verkauft wird. Und das an jedem Stand. Keiner macht eine Ausnahme.

Die Auffahrt auf der bis zu 12% steilen Straße geht erstaunlich leicht voran. Munter pedalieren wir bergauf und überholen die Laster, die weder bergauf noch ab nicht schneller als 10 km/h fahren können. Dabei erhalten wir die volle Anerkennung der Lastwagenfahrer. Einige legen ihre Hand aufs Herz und verbeugen sich vor Bewunderung, andere strecken uns den nach oben gerichteten Daumen entgegen. Und alle anderen bieten uns zumindest an, mitzufahren. Die wenigsten verstehen, dass es uns um mehr, als das bloße Erreichen des Passes geht.

Anstieg auf wunderbarer Straße

Auch wenn der Pass nur sechs Kehren hat und von unten kaum steil aussieht, so hat er es doch ganz gut in sich. Schließlich werden hier auf wenigen Kilometern mehr als tausend Höhenmeter bewältigt und die Straße steigt mit mindestens zehn Prozent. So werden wir trotz des schnellen Starts und des Asphalts dann doch bald zu einer Pause gezwungen, da die Beine immer schwerer werden. So nutzen wir die Gelegenheit am Straßenrand unseren Benzinkocher aufzubauen und unter den irritierten Blicken der Autofahrer ein richtig gutes Mittagessen mit Gemüse vom Vortag zu kochen.

Als ich gerade Wasser vom nahem Fluss hole, kommt hinter mir ein Auto unter lautem Quietschen der Reifen zum Stehen. Als ich mich umdrehe, steigt gerade die Familie aus dem besagtem Auto, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Ich sehe bereits, was sie sich gleich als bittere Tatsache eingestehen müssen: Achsbruch.

Wieder einmal sind wir allen Maschinen überlegen, wir müssen uns weder mit gebrochenen Achsen noch mit dem ständigen Kühlwasserproblem der Laster auseinandersetzen, die an jedem Bach anhalten um mehrere Eimer Wasser über ihren Motor zu kippen. Nach der sechsten Kehre haben wir noch einmal einen wunderschönen letzten Blick auf Zentralkirgistan und auf die Ebene, in der wir gestern übernachteten. Hinter dem flachen Land tauchen dann die schneebedeckten Berge auf, die kaum höher sind als wir.

Letzter Blick auf Zentralkirgistan

Nach der nächsten Kurve sind wir endlich am einzigen Tunnel der Republik. Etwas mulmig ist uns schon, als wir in das schwarze Loch blicken, von dem kein Ende abzusehen ist. Bläuliche Benzinschwaden hängen vor der Einfahrt und uns frisst sich schon jetzt der beißende Abgasgeruch in die Lunge. Wir legen unser Licht an, werden sogar auf dessen Funktionalität vom Tunnelpersonal geprüft und begeben uns in das tobende Monstrum. Der Tunnel ist spärlich durch gelbe Lampen ausgeleuchtet und die dröhnenden Ventilatoren machen einen Höllenlärm. Hoffentlich kommt jetzt kein Laster von hinten. Ein Blick zurück macht Mut. Es ist niemand zu sehen. Wenigstens fällt die Straße erst leicht, dann immer stärker ab. Es wäre ein Albtraum die Straße in entgegengesetzter Richtung, dann nämlich bergauf, zu befahren. Wir rollen mit vierzig Sachen über den Asphalt und der Tunnel nimmt und nimmt kein Ende. Die Ohren schmerzen schon von dem ständigen Lärm überall um uns herum und die Augen brennen von den Benzindämpfen. Dann endlich ist ein Licht am Ende zu sehen. Von hier sieht es aus, als würde es am Ende des Tunnels in Strömen regnen. Diese Sinnestäuschung wird in Wirklichkeit allerdings durch die Benzinschwaden hervorgerufen, die die Sicht vernebeln. Mit geröteten Augen erreichen wir endlich den Ausgang des Tunnels und pausieren, um Luft zu schnappen und uns für die Abfahrt warm anzuziehen.

Der einzige Tunnel Kirgistans... ...entpuppt sich als dunkles Monstrum

Unsere Vorfreude auf die einzige lange Abfahrt auf Asphalt wird allerdings schnell zerstört. Der Wind pfeift so heftig durch das enge Tal, dass wir selbst bei einem Gefälle von sechs Prozent noch mit voller Kraft in die Pedale treten müssen, um nicht auf der Stelle zu stehen. So muss ich meine zuvor gemachte Vermutung die vierzig Kilometer Downhill innerhalb einer Stunde zu meistern, recht schnell nach oben korrigieren. Im Endeffekt ist die Fahrt nur noch frustrierend. Da kann auch die noch so atemberaubende Landschaft nichts mehr dran ändern. Bemerkenswert ist aber trotzdem, dass die Berge fast dreitausend Meter steil neben uns aufragen. Wir würden vor Frust jedoch lieber in den Lenker beißen. Wäre er nur nicht so hart und müssten wir nicht unsere ganze Kraft aufs Pedal bringen. Grmpf! Da freut man sich nun die gesamte Reise darauf, eine Stunde lang einfach nur laufen zu lassen und sich nicht um zahlreiche Schlaglöcher kümmern zu müssen und dann das...

Es geht bergab

Nach der doppelten Zeit wie eigentlich angenommen, erreichen wir die Mautstation der Straße und werden als Sportler natürlich ohne zu zahlen durchgelassen. Am Straßenrand dröhnt Musik aus einem Straßencafe. Jawohl! Einem Straßencafe! Die Zivilisation hat uns endlich wieder und es fällt eine große Last von uns ab. Nach so vielen unplanbaren Erlebnissen und entbehrungsreichen Tagen scheint das Wort Gewissheit endlich wieder eine Berechtigung in unserem Vokabular zu bekommen: Die Gewissheit, dass wir bis Bishkek nur noch Asphalt unter den Rädern haben werden. Der beruhigende Gedanke, dass wir in Zukunft an jeder Straßenecke wieder Essen kaufen können und nicht für eine Woche im Voraus planen müssen. Die Tatsache, dass das Handy endlich wieder funktioniert. Zugegebenermaßen, ein bisschen haben wir die Zivilisation doch vermisst.

Ein Schäfer mit seiner Herde

Als wir an einem kleinen Kiosk noch Zutaten für das Abendessen kaufen wollen, zieht Korbinian eine Einladung zum Tee an Land. Als wir bei dem netten Herren schon im Wohnzimmer sitzen, stelle ich fest, dass der Mann schon ziemlich stark alkoholisiert ist. Auch das Gespräch ist recht eintönig. Ständig brabbelt er auf uns ein und wiederholt dann seine Fragen: „Könnt ihr kein Russisch? Sprecht ihr denn kirgisisch?“ Auch im Wörterbuch, was ich ihm in die Hand drücke, blättert er nur wahllos herum ohne überhaupt hineinzublicken. Nachdem er uns das zwanzigste Mal gefragt hat, ob wir kein russisch können und der Chay immer noch nicht auf dem Tisch ist, beschließen wir, dass es so langsam Zeit wird zu gehen. Aber wie sollen wir dem Kerl das nur klarmachen? Wir halten es hier jedenfalls keine fünf Minuten und weitere zwanzig Fragen nach unseren Sprachkenntnissen aus. Also zeigen wir auf unsere Uhr und wiederholen immer wieder den Namen des nächsten Ortes, wo wir hinwollen. Und unser „Gastgeber“ wiederholt immer wieder „Hey Chef!“ und gestikuliert wir sollen sitzen bleiben. Als wir gerade aufstehen, kommt sogar noch ein weiterer stark angetrunkener Freund dazu und die Ehefrau bringt die Teekanne an. Es wird höchste Zeit zu verschwinden, bevor sie zu zweit versuchen werden uns hier festzuhalten. Immer wieder halten sie uns am Arm fest und meinen, wir müssten bleiben. Hoffentlich werden sie nicht gewalttätig. Denn Gastfreundschaft hier auszuschlagen dürfte nicht sehr positiv aufgenommen werden – vor allem nicht von Männern, die nicht mehr Herr ihrer Sinne sind. Irgendwie schaffen wir es unsere Räder vom Hinterhof zu schieben und die jugendliche Tochter stemmt sich glücklicherweise gegen die beiden Männer, um sie davon abzuhalten uns hinterherzulaufen. Uff! Was für ein Gewaltakt. Wir sind froh, als wir den Ort endlich verlassen. Doch am Ortsausgang werden wir von einigen Jugendlichen empfangen und hinter Korbinian fliegt ein Stein imposanter Größe hinterher, der ihn nur knapp verfehlt. Hoppla! Heute scheint es umso wichtiger zu sein einen Platz mit Sichtschutz zu finden. Im Endeffekt finden wir auf einem Kartoffelacker Platz, um unser Zelt aufzustellen. Ein Maisfeld sorgt dafür, dass uns von der Straße aus niemand sehen kann. Nach dem Essen verfolgen wir die Bahn der Sonne, die rotglühend am Horizont verschwindet und unterhalten uns noch lange. Seit fünf Wochen sind wir nun zum ersten Mal wieder unterhalb von tausend Metern Höhe und dementsprechend warm ist es auch noch nach Sonnenuntergang. Als dann immer mehr Sterne am Himmel stehen, beschließen wir etwas wehmütig nun unserer letzten Nacht im Freien entgegenzugehen und das Zelt aufzubauen.