Einen Moment verharren wir. Wo kommt das her? Oder ist das ein Motorrad? Ich schaue als erster aus dem Zelt und sehe zunächst niemanden. Dann in weiter Ferne stehen Arbeiter, die eine Wiese mähen. Puh... Der Puls beruhigt sich wieder. Bei einem Blick auf die Uhr zeigt diese bereits halb sechs. Den Wecker haben wir überschlafen; gut, dass wir so noch geweckt wurden.
Da es bereits recht hell ist und die Arbeiter für einen langen Moment zu uns hinüberschauen, bauen wir unser Zelt zügig ab und lassen uns mit dem vollbepackten Rad den Hang hinunterrollen.
Morgendämmerung |
Im nächsten Ort frühstücken wir dann erst einmal einen Sandwich, da die Bars auch am Sonntag geöffnet haben. Im Morgendunst strampeln wir noch etwas müde und fröstelnd die nun stärker steigende Straße entlang. Den langen Autotunnel bei Triponzo wollen wir uns nicht antun und so fahren wir über die alte Straße außenherum. Ein „Durchfahrt verboten“ sowie ein „Straße unterbrochen“ Schild hätten uns bereits am Anfang der kleinen und nicht mehr von Autos benutzten Straße stutzig machen müssen. Nach einer Kurve sehen wir den Grund für die Schilder. Die gesamte linke Hälfte der Straße liegt unter mehreren großen Steinen vergraben. Nach einer weiteren Kurve werden es immer mehr Steine, die nun über die gesamte Nebenstraße verteilt liegen, und auch die Pflanzen überwuchern Asphalt und Leitplanken beziehungsweise was davon noch übrig ist. Dann ist Ende. Die Straße ist fast komplett unter einer Gerölllawine begraben und die Steine sind fast völlig zugewuchert. Nach einem ratlosen „Tja, das war’s dann wohl“ wollen wir gerade wieder umdrehen, als ich einen Rennradler auf der anderen Seite sehe.
Wie jetzt? Straße gesperrt? |
„Brutal!“
Fluchend kommt er durch den kleinen, unscheinbaren Durchgang geschoben und ich frage ihn, ob es noch weit bis zur Hauptstraße sei.
„Nein, nein! Höchstens 100 Meter“ beruhigt er uns, während wir unsere Räder auf die andere Seite bringen.
Nach ein paar Kilometern und kleineren Tunneln wieder auf der Hauptstraße, machen wir erschöpft Pause. Wir sind heute kaum leistungsfähig. Wahrscheinlich steckt uns noch immer die unruhige Nacht in den Knochen. Wir lehnen uns am Straßenrand an die auf den Boden gelegten Räder und dösen. Wie schon so oft auf dieser Reise fällt uns auf, wie viele Autofahrer im Vorbeifahren winken oder hupen. Aufmunternd oder anspornend ist es immer wieder eine nette Geste und zeugt von der Begeisterung der lebensfreudigen Italiener für den Radsport. Wenn sie wüssten, wo ich schon herkomme. Aus Garmisch über die Alpen schon. Nimmt man die bisherigen Touren zusammen, eigentlich aus Hamburg. Oder sogar aus Dänemark.
Später erreichen wir Norcia und füllen unsere Vorräte am zu unser Verwunderung sonntags geöffneten Supermarkt auf. Hier beginnt auch einer der großen Nationalparks Italiens, der „Monti Sibillini“, dessen Berge hoch und urtümlich aufragen und vermuten lassen, wo die Hochebene liegt, die wir heute noch erreichen wollen.
Nach dem Supermarkt beginnt die nunmehr für 20 Kilometer nicht endende, kontinuierliche Steigung. Obwohl wir wie die Tiere schwitzen, sind wir erstaunt, wie leicht der relativ flache Anstieg zu fahren ist. An der einzigen Kehre in 1000 Metern Höhe machen wir Siesta und schlafen ein. Nach zwei Stunden geht es wieder weiter. Die Hälfte ist jetzt noch übrig, auf 1521 Meter Höhe müssen wir heute noch kommen, bevor es bergab in die Hochebene geht. Trotz des sich zuziehenden Wetters und der Kühle sind wir fassungslos gegenüber der gigantischen Landschaft mit den riesigen Bergen, in denen wir nur winzig klein erscheinen.
Auffahrt zum Piano Grande | ...Blick auf Norcia | Durch die Berge |
Warm angezogen sind auch die letzten Meter bis zum Pass kein Problem mehr. Beflügelt von der kahlen und gar nicht italienisch anmutenden Landschaft trete ich noch etwas schneller und bin völlig sprachlos von dem sich öffnenden Blick ins drei Kilometer breite und sieben Kilometer lange „Piano Grande“ hinab. Malerisch von Bergen umrahmt, verdeckt kein Baum, kein Strauch die Sicht auf die tief im Tal vorrüberziehenden Viehherden. Überragt werden sie vom Monte Vettore, dem höchsten Berg in der Umgebung und damit auch der Wettergrenze. Hier steigt die feuchte Luft der Adria empor, was in der Regel mit einem dichten Wolkenkleid um die Spitze einhergeht. Auch die Schatten der Wolken ziehen gemächlich über die Ebene. Die „Große Stille“. So heißt der italienische Name übersetzt. Kaum besser hätte man ihn wählen können.
Das Piano Grande | Wilde Hunde... | ...betteln uns um Essen an. |
Entlang der schnurgeraden Straße ziehen wir durch die Ebene und geraten an eine riesige Ansammlung von Wohnwagen und Zelten. Am Wochenende verwandelt sich selbst diese abgelegene Region von der großen Stille in die große Attraktion. Einfach einmal dem Alltag entfliehen und die Natur genießen. Das wollen hier viele. Wir fragen einige Camper, ob es möglich ist hier auch über Nacht zu bleiben und bekommen bestätigt, dass es wohl keine Probleme geben dürfte, da Wohnmobile hier auch übernachten dürfen. Mitten auf der Ebene bauen wir unsere Zelt auf. Wenn der Blick schweift, könnten wir glatt vergessen, dass wir in der Mitte Europas sind. Neuseeland? Norwegen? Island? Irgendwo auf der Welt. Aber ganz sicher nicht Italien. Im rotgelben Licht der untergehenden Sonne, das die Hügelkuppen nur noch streift und damit interessante Licht- und Schattenspiele hervorruft, werden die letzten Schafherden zusammengetrieben und eine einsame Gruppe von Reitern kehrt zurück, bevor auch wir uns warm angezogen in den Schlafsack kuscheln und mit über 1300 geschafften Höhenmetern einschlafen.
Abendessen | Blick auf Castelluccio | Die Schafe werden zusammengetrieben |
Schlafplatz mit grandioser Kulisse | Einfach nur die Füße hochlegen... | ...und entspannen... |
...bis die Sonne untergeht |