Der Attraversiamo Le Alpi
Längenfeld - Vilpiano (I)

Piep. Piep. Pieeeeep! Mein Wecker klingelt um fünf Uhr morgens und ich stürze noch etwas schlaftrunken ans Fenster um zu sehen, ob der Wetterbericht recht hatte, als er für den heutigen Tag gutes Wetter prophezeite. Glücklicherweise stimmt die Vorhersage. Die Landschaft liegt draußen noch im blauen Licht der restlichen Nacht, während ich mein Frühstück zu mir nehme. Um sechs Uhr bin ich dann startbereit und als ich gerade auf das Rad aufsteigen will, erschüttert ein ungeheurer Knall die morgendliche Ruhe. Unwillkürlich zucke ich zusammen, während der Explosionslärm an den Wänden des engen Tals noch einen Moment nachhallt. Während ich mich noch nach der Ursache frage, fegt der Lärm einer zweiten Detonation durch die Luft und kurze Zeit später auch noch der einer dritten. Dann ist es wieder still und die Vögel zwitschern. Unwissend, was das nun war und etwas irritiert, wie man hier in Österreich an einem Sonntagmorgen seine Bürger weckt, mache ich mich auf den Weg zum großen Tag, auf den ich schon so lange warte.

Der italienische Name der Tour, „Attraversiamo Le Alpi“, heißt übersetzt eigentlich „Wir überqueren die Alpen“. Der Name ist noch ein Relikt aus der Zeit, in der ich glaubte jemanden für ein solches Unterfangen begeistern zu können. Nun bin ich alleine – aber keinesfalls einsam. Für Ablenkung werden schon die vielen anderen Radfahrer sorgen, mit denen ich mich heute noch unterhalten werde.

Während ich mit meinem Plüschhündchen, welches wie bei jeder Tour als Glücksbringer am Rad befestigt ist, die noch relativ flache Straße nach Huben entlangrolle, verzaubert die aufgehende Sonne die Bergspitzen des immer enger werdenden Ötztals in viele schroffe, glühende Punkte.

Attraversiamo Le Alpi...es geht los

Ab Huben steigt die Straße dann kontinuierlich an. Erst leicht, später immer stärker. Trotzdem ist die Motivation spätestens mit dem ersten zu sehenden Gletscher weit über der von gestern. Ich fülle meine Wasserflaschen mit frischem Quellwasser auf und strampele mir bei einer 13%-Steigung und den anschließenden 11% über viereinhalb Kilometer fast die Seele aus dem Leib. Bei dem Gedanken solch eine Straße heute noch kilometerweise vor mir zu haben kann einem ganz schön weich in den Beinen werden. Ab Zwieselstein warten sieben noch längere Kilometer auf mich, die mich über die ersten beiden Kehren, zahlreiche Kurven und Steigungen mit bis zu 12% bis nach Zwieselstein bringen werden. Mittlerweile werden die Pausen immer häufiger und kürzer, da es in dieser Höhe doch noch recht kalt ist.

Alpine Landschaft Toller Blick in Obergurgel

Mittlerweile hat auch die Sonne ihren Weg über die Bergspitzen gefunden und begrüßt mich auf 1850 Metern Höhe in Obergurgel. Hier beginnt auch der offizielle Pass, die Timmelsjoch Hochalpenstraße. Zwölf Kilometer, 812 Höhenmeter und etliche Kehren warten nun noch auf mich, bis ich hoffentlich oben stehen werde. Während ich die Passstraße in Angriff nehme, schweift der Blick über das unbeschreiblich schöne Ötztal, welches, eingefasst von den 3000 Meter hohen Bergen, im Tal nur noch einen knappen Kilometer breit ist. Bald, auf 2000 Metern angekommen, ist auf dieser nur wenige Monate im Jahr freigegebenen Strecke gerade der Frühling ausgebrochen und die Pflanzen blühen in den verschiedensten Farben.

Steile Berge... ...und Kehre 3 von 15 Timmelsjoch-Hochalpenstraße

Unterwegs treffe ich einen Rennradler aus Holland, der über seine berguntaugliche Zahnkranzübersetzung schimpft, und an der Mautstation in Hochgurgel, dem letzten Ort vor dem Pass, einen Mountainbiker aus Münster. Bei einer Currywurst unterhalten wir uns und anschließend geht es unnützerweise 150 Höhenmeter wieder bergab. Anschließend wie immer steil bergauf. Nach der Abfahrt, bereits 1000 Höhenmetern und der schwer im Magen liegenden Currywurst bin ich am Ende meiner Kräfte und jeder Tritt wird zur Qual. Ich fahre zwar im letzten Gang, habe aber das Gefühl, jemand hätte mir ein paar Tonnen zusätzlich auf den Gepäckträger geklemmt, während ich mir meine Currywurst gekauft habe. Wenn ich den erwische...

Nach der Mautstation

Während mir am Anfang die Ortschaften als Zwischenziele genügten, muss ich jetzt im kleineren Maßstab denken. Fünf Wegbegrenzungssteine - jeweils in zehn Metern Entfernung voneinander – das muss ich jetzt am Stück schaffen. Ich trete. Und trete. Und hechele. Und keuche. Und bleibe bereits am zweiten Stein stehen. Mein Herz pocht, ich bin außer Atem. Kurze Pause. Weiter geht es. Dieses mal muss auch ein dritter Stein zu schaffen sein. Doch statt des erhofften Rekords muss ich dieses mal schon nach 10 Metern wieder anhalten. Meine kurze Pause wird jedoch durch ein lautes Geräusch gestört. Am zweiten Tag hat sich bereits der Ständer unter dem ganzen Gewicht verabschiedet. Na bravo!

Meine Beine fühlen sich an, als ob sie aus Blei wären. Aber es muss weiter gehen. Am liebsten würde ich mir jetzt meinen Schlafsack ausrollen und sofort einschlafen. Der Pass kann ruhig warten. Von mir aus ein paar Tage oder sogar Wochen. Weit in der Ferne sieht man, wie die letzten Kehren auftauchen. Mit meiner aktuellen Geschwindigkeit von vielleicht zwei Kilometer pro Stunde ist es aber noch ein langer Weg bis dort.

Die letzten Meter - Blick zurück

Heute kann ich gar nicht mehr sagen, wie lange ich eigentlich bis zu den Kehren gebraucht habe. Jedenfalls hat es lange gedauert. Bei den Kehren geht es dann wieder etwas besser, da ich weiß, dass jetzt nicht mehr viel nachbleiben kann. Dann ist bereits die Hütte auf dem Pass zu sehen und man erkennt den Motorradparkplatz. Während ein paar kleine Schneefelder langsam an mir vorbeiziehen, mobilisiere ich für den Endspurt noch einmal meine aller letzten Kräfte, gehe aus dem Sattel, beiße die Zähne zusammen, würde am liebsten schreien um die letzte Energie aus mir herauszuholen. Nur noch wenige Meter sind es. Jetzt bloß nicht wieder absteigen. Noch zwanzig Meter. Es muss gehen. Die letzten 10 Meter kommen mir wie zehn Kilometer vor. Langsam wird die Steigung flacher und dort am Horizont, da muss die Straße zu Ende sein.

Dann stehe ich oben und würde am liebsten laut schreien und jubeln, um aller Welt meine Freude zu verkünden, dass ich es mit all diesem Gepäck geschafft habe hier hoch zu kommen. Da mich ein Ehepaar sowieso etwas ungläubig anschaut, verkneife ich mir den Jubel lieber und genieße still den unglaublichen Blick von hier oben.

Juhuuu!! Endlich oben! Italia! 50 km bergab...

Nachdem ich einen Radfahrer gebeten habe ein Foto von mir zu machen, beginne ich warm eingepackt die Abfahrt und erreiche Italien! Die Abfahrt auf der italienischen Seite führt durch einige kurze Tunnel, von denen der längste knappe 100 Meter lang ist. Das Horrorgerücht, dass auf der italienischen Seite keine Leitplanken vorhanden sein sollen wird, glücklicherweise nur an wenigen Stellen bestätigt.

Ich genieße den Blick auf die Alpen und sehe dadurch erst im letzten Moment einen faustgroßen Stein direkt auf der Straße vor dem Vorderrad. Die Zeit reicht nicht mehr zum Ausweichen. Während ich gerade noch feststelle, dass ich fünfzig Stundenkilometer schnell bin und keine Leitplanke vorhanden ist, erwischt er mich auch schon und bringt das ganze Rad zum Schütteln und Wackeln. Ich habe große Probleme den Lenker gerade noch so zu halten, dass ich nicht stürze. Nicht auszudenken, was sonst passiert wäre. Anschließend wandert die Landschaft weiter nach hinten in der Prioritätenliste und ich konzentriere mich auf die Straße mit ihren vielen Kehren. Knappe fünfzig Kilometer geht es bergab, bevor ich im kochend heißen Meran ankomme. Und das, ohne dass man treten muss. Nach einer längeren Irrfahrt erreiche ich auch meinen Campingplatz in Vilpiano und stelle das Zelt nach 1400 Höhenmetern müde aber glücklich auf.